Gerade wenn wir uns auf die Reise zu uns selbst begeben, gibt es keine Landkarten, an denen wir uns orientieren können, wir wissen nicht, wie lange der Weg ist, wo genau das Ziel ist, wir kennen nur die Richtung. Es gehört auf ganz natürliche Weise dazu, dass es manchmal Phasen gibt, in denen wir uns orientierungslos fühlen, in denen wir den Eindruck haben, dass nichts vorangeht, dass wir vielleicht sogar wieder zurück in alte Muster und Verhaltensweisen fallen. Und dann gibt es auch Momente, in denen wir uns verwundert umschauen und realisieren, was für eine große Etappe wir still und unbemerkt zurückgelegt haben. Und manchmal gibt es auch entscheidende Durchbrüche, die uns einen Teil des Weges ins Siebenmeilenstiefeln voranbringen.
In diesen Phasen, egal ob es sich gerade nach Stagnation anfühlt oder nach stetigem Wachstum und Entwicklung, setzt uns das Leben gerne immer wieder Situationen aus, in denen wir erkennen können, was es noch zu lernen, zu vertiefen und zu üben gilt. Das kann manchmal ganz schön frustrierend sein. Ich erinnere mich an Situationen, in denen mir solche Situationen wie den Wind aus meinen Segeln genommen haben. Man beginnt, an sich, an seinem Weg zu zweifeln, verliert vielleicht den Mut, die Zuversicht, die Energie und den Antrieb.
In einer solchen Situation vor vielen Jahren fiel mir dieser Text von Portia Nelson in die Hände. Es ist ein Text, der schon beim ersten Lesen etwas Entscheidendes in mir bewegte – und der seither ein treuer Wegbegleiter ist, welcher mir zuverlässig durch schwierige Phasen und vermeintliche Rückschritte hilft.
Autobiographie in 5 Kapiteln
von Portia Nelson
Kapitel 1
Ich gehe die Straße entlang.
Im Gehsteig ist ein tiefes Loch.
Ich falle hinein. Ich bin ratlos und hilflos,
aber es hat nichts mit mir zu tun.
Es dauert endlos lange, wieder herauszufinden.
Kapitel 2
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Im Gehsteig ist ein tiefes Loch.
Ich tue so, als ob ich es nicht sähe und falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, dass ich mich wieder in dieser
Situation befinde, aber sie hat nichts mit mir zu tun.
Es dauert immer noch lange, herauszukommen.
Kapitel 3
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Im Gehsteig ist ein tiefes Loch. Ich sehe, dass es da ist.
Ich falle hinein. Es ist schon eine Gewohnheit, aber
ich habe meine Augen dabei weit geöffnet.
Ich weiß wo ich mich befinde.
Diese Situation hat sehr viel mit mir zu tun.
Ich klettere sofort heraus.
Kapitel 4
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Im Gehsteig ist ein tiefes Loch.
Ich gehe daran vorbei.
Kapitel 5
Ich gehe eine andere Straße entlang.
Wie oft hatte ich den Eindruck, das Leben würde mich wie im Monopoly-Spiel zurück auf LOS schicken. „Ziehen Sie keine 4000 DM ein.“ Manchmal gehörte sogar gefühlt noch ein Aufenthalt im Gefängnis mit zu dem, was das Leben mir an Karten zuspielte, wenn es mich zurück zum Anfang schickte. Doch als ich den Text zum ersten Mal las, bemerkte ich, dass ich mich eigentlich in Kapitel 2 und oft sogar in Kapitel 3 befand. Ja, ich war wieder in alte Muster zurückgefallen, aber ich wusste auch besser mit den Situationen umzugehen. Und oft war mir mein eigener Anteil daran bewusst. Statt sich dafür zu verurteilen, entdeckt ich eher die Ressource, die darin steckte zu erkennen, was ich selbst zu dieser Situation beigetragen und folglich auch leichter ändern konnte als „die anderen“ oder „die Umstände“, die man sonst gerne dafür verantwortlich macht, wenn man wütend oder traurig oder verletzt im tiefen Loch sitzt.
Ich begann mich zu freuen, wenn ich immerhin rückblickend oder oft sogar im Moment des „Hineinfallens“ erkannte, dass ich hier wieder alten Mustern ins Netz gegangen war. Statt sich zu ärgern, dass ich gerade falle, lernte ich zu schätzen, dass ich dies nun bewusst tun konnte. Und wie schön war es, in seltenen, aber wertvollen Fällen zu erkennen, dass ich kurz vor dem Hineinfallen die Erkenntnis hatte und dann mein Verhalten rechtzeitig ändern konnte. Diese Situationen wären einfach so an mir vorbeigeglitten, unbemerkt. Doch durch diesen Text wurden sie mir bewusst, ich lernte, diese Situationen, die eigentlich nicht der Rede wert waren, weil ja alles „glatt lief“, zu sehen und zu wertschätzen.
Ob ich jemals vollständig in Kapitel 5 landen werde, weiß ich nicht. Und es scheint mir auch gar nicht wichtig. Viel wichtiger ist es, dass ich gelernt habe, auf dem Weg zu sein und dabei nicht mehr in jedes Loch unbewusst hineinzufallen. Wenn es doch passiert, klettere ich eben wieder heraus und gehe weiter. Und manchmal fühlt es sich so an, als würde man fast absichtlich in ein Loch hineinhüpfen. Ich sehe das nicht als Rückschritt. Denn scheinbar gibt es in der Tiefe des Lochs oder auf dem Weg nach oben noch etwas zu lernen.
Im Gegensatz zu einem Buch ist der individuelle Lebens- und Entwicklungsweg nämlich nicht linear, sondern zyklisch. Man kommt immer wieder zu alten Themen zurück, um diese auf einer tieferen (oder höheren, je nachdem wie man es bezeichnen möchte) Ebene zu verstehen, zu verinnerlichen, zu integrieren. Es geht darum, zunehmend die Augen weit geöffnet zu haben und, ungeachtet der Beschaffenheit der Straßen, auf denen man sich befindet, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.
Kommentar schreiben