Wenn eine Stimme sich meldet, die dir zuflüstert, dass du Ruhe brauchst, dann höre ihr zu. Es ist keine Luxusfrage, wie die Frage, ob du dir nach einem reichhaltigen Essen noch einen Nachtisch gönnst. Es geht um deine Substanz, es geht um deine Essenz. Es geht darum, ob du deinem ausgelaugten Körper und deiner ausgedürsteten Seele, die sich seit Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten, ausgezehrt und nach Wasser dürstend durch karges Wüstenland kämpfen, eine Rast an einer nährenden Oase gönnst. Oder ob du ihnen sagst, sie sollen sich noch ein wenig gedulden, irgendwann würde dein Weg dich sicherlich wieder an einer Oase vorbeiführen, vielleicht passe die Ruhepause dann besser in den Reiseplan.
Doch wisse: Dein Körper und deine Seele geben alles für dich. Sie haben sogar gelernt, so zu tun, als hätten sie noch eine Wasserflasche im Gepäck, damit du nicht irgendwo in der kargen Weite der Wüste mit voller Wucht erkennst, in welch großer Not du dich eigentlich befindest. Du bist am Verdursten, sie lassen es dich jedoch nicht in dieser Deutlichkeit spüren. Doch wenn sich am Horizont eine Oase abzeichnet, flüstern sie dir zu: „Bitte, wir brauchen Ruhe.“ Überhöre dieses Flüstern nicht. Auch wenn es anfangs leise und kaum erkennbar ist: Es ist ein gellender Hilferuf. Der Schrei nach Hilfe eines tiefen Teils von dir.
Leider findet unser Verstand dann oft viele Gründe, wieso wir jetzt keine Zeit haben, uns zurückzuziehen, eine Pause zu machen, ruhig und still zu werden. Der hochgetaktete Alltag, die Anforderungen von Job und Familie, die gesellschaftlichen Ansprüche und die Muster, die wir seit unserer Kindheit verinnerlicht haben, scheinen es zunächst leichter zu machen, das leise Flüstern zu ignorieren und stattdessen „auf Spur“ zu bleiben, weiter zu funktionieren, sich weiterzukämpfen. Und tatsächlich funktioniert das oft für eine Weile. Wenn du einen Marathon gelaufen bist und am Ende noch ausläufst, merkst du noch gar nicht, wie erschöpft und unterzuckert du eigentlich bist. Erst nachdem du dich hingesetzt oder hingelegt hast und der Körper die Möglichkeit hatte, herunterzufahren und das Adrenalin abzubauen, erst jetzt spürst du die Schwere in deinen Beinen, die Müdigkeit und Erschöpfung. Zuvor mobilisierst dein Körper alle Ressourcen, um dir zu suggerieren, dass du dein Ziel erreichen kannst. Doch was, wenn du nach der Ziellinie einfach weiterläufst? Den nächsten Marathon anhängst, das nächste Ziel vor Augen und das nächste und das nächste… Dies ist es, was die meisten von uns, ohne es zu merken, häufig tun.
Irgendwann versucht das Tandem aus Körper und Seele uns deutlichere Zeichen zu schicken. Ihre Intention ist liebevoll, denn schließlich möchten sie uns warnen, uns die Augen öffnen, bevor wir vollkommen verdurstet in der Wüste liegen bleiben. Der Körper kann über Krankheiten dafür sorgen, dass wir innehalten und uns – jetzt gezwungenermaßen – Ruhe gönnen. Und auch die Seele hat Möglichkeiten, mit uns in Kontakt zu treten: Wenn wir plötzlich von tiefen Emotionen überschwemmt werden, ein brennendes Gefühl nach oben steigt, dass wir etwas in unserem Leben ändern sollen, wenn wir uns fragen, wer wir sind und was unsere Aufgabe im Leben ist, dann spricht unsere Seele zu uns und bittet uns, leise und ruhig zu werden und nach innen zu lauschen. Denn eigentlich geht es nur darum: still zu werden, um zuzuhören. Die natürliche Weisheit deines Körpers und die ewige Weisheit deiner Seele möchten deine Aufmerksamkeit. Sie haben eine wichtige Botschaft für dich.
Leider tun wir diese Kontaktversuche von Körper und Seele oft als lästige Zwangspausen ab, die wir damit verbringen zu überlegen, wie wir möglichst schnell wieder ins Hamsterrad des Lebens zurückzuspringen können. Auch in Zeiten der erzwungenen äußeren Ruhe kommen wir innerlich nicht zur Ruhe, sondern beschäftigen uns damit, was uns zum Beispiel nach den Krankheitstagen im Job erwartet, was wir tun können, um diese heftigen Gefühle nicht mehr fühlen zu müssen – kurz, wir tun alles, um möglichst nicht in den Verdacht zu geraten, wir würden diese Ruhe, den Rückzug und das Nichtstun auskosten und genießen.
Wieso ist das eigentlich so? Das Umfeld macht es uns meist nicht leicht, uns Ruhe und Rückzug zu gönnen, da dies meist mit Faulheit, fehlendem Antrieb oder Ziellosigkeit assoziiert wird. Wenn man doch irgendwann vorsichtig äußert, man bräuchte etwas Zeit für sich selbst, bekommt man oft hart die moralische Keule des schlechten Gewissens zu spüren, die den ersten aufkeimenden Wunsch nach nährenden Stunden oder Tagen in der Oase der Ruhe meist sehr verlässlich sofort totschlägt. „Wie kann ich mir Ruhe gönnen, wenn XY so hart arbeitet / mit den Kindern alle Hände voll zu tun hat / sich früher auch nie Zeit für sich gegönnt hat?!“
Doch, dürstende Frau – und auch du, dürstender Mann! Du hast alles Recht dazu, dir jederzeit und immer wieder Zeit für dich zu nehmen. Und nicht nur das: es ist deine wichtigste Aufgabe auf deinem Entwicklungsweg. Wenn du innehältst, still wirst und lauschst, wirst du irgendwann die Stimme deiner Seele hören. Du wirst endlich in Kontakt kommen mit einer Weisheit in dir, die schon immer da ist und die dich gerne auf deinem weiteren Lebensweg begleiten möchte. Du hast die Möglichkeit, Teile von dir zu integrieren, die du bisher nicht wahrgenommen hast. Du kannst ganz werden. Doch zuerst, und das ist nicht immer leicht, wirst du vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben spüren, wie ausgelaugt und nahe am Verdursten du tatsächlich bist. Und ja, das kann Angst machen und verwirren. Doch es ist nur Teil des Prozesses. Der erste Schritt zum Auffüllen deiner Energiespeicher ist, endlich wirklich zu erkennen, zu sehen und zu spüren, wie leer sie eigentlich sind.
Besonders für uns Frauen und generell auch für die weibliche Energie in uns (die sowohl Frauen wie auch Männer besitzen) sind die Zeiten der nährenden Stille der Schlüssel. Du wirst mit der Zeit merken, dass dein Körper und deine Seele diese Zeiten des Rückzugs mit größerer Selbstverständlichkeit fordern. Du wirst merken, wie wohltuend die Ruhe für dich ist. Es ist, als würden sich deine Lungen zum ersten Mal wieder tief mit frischer, sauerstoffhaltiger Luft füllen. Es ist wie der köstliche erste Tropfen Wasser nach einer Wüstendurchquerung, der durch deine Kehle rinnt. Es ist wie das Öffnen einer wunderschönen Blütenknospe nach einem harten Winter. Es ist wie das Loslassen und Aufsprengen einer engen Rüstung, die dir kaum Raum zum Leben gelassen hat. Es ist wie das Vollsaugen eines Schwamms, der vertrocknet in der Sonne lag. Es ist wie das Weitwerden und Flügelausbreiten in einer Vollmondnacht. Es ist wie das Hineinsinkendürfen in den weichen Stoff einer sich sanft wiegenden Hängematte. Es ist wie der erleichterte Seufzer, wenn du nach langer, langer Zeit einen alten, verschollen geglaubten Freund endlich wieder in deine Arme schließt.
Und das Schöne daran ist: Du brauchst nicht mehr zu tun, als für genug Zeiten des Rückzugs und der Stille zu sorgen. Das können einige Minuten am Tag sein oder bestimmte Zeiten in der Woche oder vielleicht auch jedes Jahr ein paar Tage am Stück (ein Retreat). Und erlaube dir dann einfach wenig oder sogar nichts zu tun. Lausche tief nach innen. Alles, was du wissen musst, wird von dort zur richtigen Zeit aufsteigen. Sei geduldig und wohlwollend mit dir.
Be silent. Listen deeply. Feel. Reconntect to your true self. Allow yourself to simply be.
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