Liebes, wenn es zu viel ist, dann sage es. Du bist aufgewachsen in dem Glauben, alle dir gestellten Aufgaben bewältigen zu müssen. Und lange, viel zu lange, hast du dies getan. Du hast dein Arbeitspensum, die Reizüberflutung, das hochgetaktete Tempo und den Leistungsdruck nie in Frage gestellt. Du hast funktioniert – und bist dabei weit über deine Grenzen gegangen. Für welchen Lohn? Und vor allem: zu welchem Preis?
Du hast verlernt, die Warnsignale deines Körpers wahrzunehmen. Stattdessen hast du gelernt, die eigenen Bedürfnisse wegzudrücken, bis du dachtest, sie wären deckungsgleich mit dem, was die Gesellschaft und dein Umfeld von dir erwartet. Wann hast du dich das letzte Mal gefragt: Was brauche ich? Was tut mir gut? Wann ist es Zeit für eine Pause?
Auf dem Weg zu dir zurück, wenn du alte Muster und deine harte Schale ablegst und sich - anfangs vielleicht nur für kleine Momente - der Blick auf deinen eigenen verletzlichen und wunderschönen Kern auftut, auf diesem Weg lernst du das Wunder deines Körpers kennen. Die unzähligen, mal subtilen, mal sehr deutlichen Signale, die er dir in jedem Augenblick liebevoll und geduldig sendet. Höre zu. Dein Körper möchte endlich gehört werden. Und so beginnst du zu spüren, was DU eigentlich brauchst, was DEINE Bedürfnisse sind.
Auch wenn es im Alltag viele Situationen gibt, die es nicht zulassen, dass du sofort und jederzeit nach deinen Bedürfnissen handelst, so gibt es auch viele Situationen, in denen es möglich wäre. Während du auf der Autobahn fährst, kannst du natürlich nicht unvermittelt vom Gas und dich an den Seitenstreifen rollen lassen, wenn du merkst, dass du eine Pause brauchst. Aber du kann Ausschau halten nach dem nächsten Parkplatz, um dir dort für eine Weile die Beine zu vertreten und dann frischer und wacher deinen Weg fortzusetzen.
Der erste und wichtigste Schritt ist: die eigenen Körperempfindungen, Gefühle und Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen. Der zweite Schritt ist: sie wichtig zu nehmen. Auch wenn du nicht unmittelbar auf sie eingehen kannst, so kannst du deinem Körper doch signalisieren, dass du die Botschaft verstanden hast und dafür sorgen wirst, dass er das bekommt, was er braucht. Ruhe, nahrhaftes Essen, Wärme, Bewegung, Berührung, Muße, kreativen Ausdruck, Rückzug, Natur, ein Schaumbad, einen warmen Tee, Musik, ...
Und mit der Zeit werdet ihr ein gutes Team. Du weißt aus Erfahrung oder intuitiv, welche Situationen eine Überforderung darstellen, wann du gewohnheitsmäßig oder gezwungenermaßen über die eigenen Grenzen gehst – und vielleicht gelingt es dir, vorausschauend zu planen und die Weichen so zu stellen, dass die Situation für dich angenehmer ist, dass sie deinen Körper und dein Nervensystem nicht so sehr überfordert.
Manchmal geht das nicht, wirst du sagen, manche Arbeiten müssen erledigt werden, das Tempo kann nicht reduziert, der Arbeitsprozess nicht unterbrochen werden. Doch gut für sich zu sorgen, kann auch bedeuten, dich besonders gut erholt und gesättigt auf die anstrengende Reise zu begeben und danach genug Zeit für die Regeneration einzuplanen. Und es bedeutet auch: liebevoll mit deinem erschöpften Ich zu sein. Es ist kein Zeichen von Schwäche, ausgelaugt zu sein, wenn du über deine Grenzen gegangen bist oder gehen musstest. Statt dich dafür zu verurteilen, sei freundlich und wohlwollend mit dir. Finde heraus, was dir guttut, was dich nährt. Sorge für dich, bis du wieder zu Kräften gekommen bist.
Nach dem ersten Schritt, dem Wahrnehmen der eigenen Bedürfnisse, und dem zweiten, dem Ernstnehmen und Danach-Handeln, kommt ein dritter, ebenso wichtiger Schritt: Sprich deine Bedürfnisse aus! Es reicht heutzutage nicht mehr, sich seine Nischen zu suchen, auf Geld, Karriere oder Ansehen zu verzichten, um sich sein Leben in einem stillen Winkel so zu gestalten, dass es keine permanente Überforderung darstellt. Wir brauchen Menschen, die sich trauen zu sagen: „Dies ist zu viel. Ich brauche andere Arbeitsbedingungen. Ich liebe meine Arbeit und bringe mich gerne ein – mit meiner Feinfühligkeit und meinem Gespür für Ungesagtes, mit meiner Empathie, meiner Kreativität und emotionalen Tiefe, mit meiner differenzierten Wahrnehmung und meinen leisen, klugen Ideen und mit meiner Fähigkeit, in Beziehung zu treten.“ Wir brauchen Menschen, die ihre Stimme erheben, wenn wir längerfristig ein Arbeitsumfeld schaffen wollen, das uns allen erlaubt, gesund und glücklich zu bleiben – und das nicht nur maßgeschneidert ist auf die Bedürfnisse der Lauten, Extrovertierten, Dickfelligen.
Und ja, wenn du deine Stimme erhebst, kann es sein, dass dir gesagt wird, du seist
nicht belastbar, zu dünnhäutig, zu schwach. Es kann sein, dass man dich nicht versteht oder deine Bedürfnisse weiterhin einfach ignoriert. Lass dich nicht entmutigen. Und stelle deinen Wert nicht
in Frage. Bleibe dabei: nimm deine Bedürfnisse wahr, nimm sie ernst und – so gut es geht – äußere sie und sorge liebevoll für dich selbst. Wenn du es nicht tust, wer soll es sonst tun? Wir
brauchen eine Revolution der Stillen, der Sensiblen, der Feinfühligen. Du bringst ein großes Potential mit, das die Menschen in deinem Umfeld, das die Gesellschaft braucht. Entdecke es in
dir, schätze es und lass es erblühen – und dann teile es mit der Welt!
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Jasmine (Sonntag, 18 August 2019 11:28)
Wenn ich deine Worte lese, fühle ich mich vereint statt verkehrt.
In deinen Texten eröffnest du mir einen Zugang zum Meer der sensitiven Magie.
Ich darf genau so sein und kann auf Anpassung und Pseudooptimierung getrost verzichten.
Welch unerhörte Befreiung!
Danke.