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Wo bist du? - Die Suche nach dem Verlorenen Zwilling

Manche Menschen beginnen ihre Lebensreise zu zweit oder sogar zu dritt. Wenn während der Schwangerschaft der Zwilling wieder geht, ist dies eine zutiefst traumatische Erfahrung für den Fötus, der alleine im Mutterbauch zurückbleibt. Meist spüren diese Menschen ein Leben lang eine unerklärlich großen Sehnsucht, ohne zu wissen, was sie eigentlich suchen und was ihnen fehlt. Einen Zwilling bereits im Mutterbauch zu verlieren ist ein einschneidendes Erlebnis, das große Auswirkungen auf das Leben und Erleben des alleingeborenen Zwillings hat.

 

Es ist mir ein Bedürfnis, über das Phänomen des Verlorenen Zwillings zu schreiben, da mehr Menschen davon betroffen sind, als uns heute bewusst ist. Bisher gibt es noch wenig wissenschaftliche Studien zu diesem Thema, doch insbesondere in der körperorientierten Traumapsychotherapie entsteht seit einigen Jahren ein Verständnis dafür, wie tiefgreifend die Auswirkungen eines solchen pränatalen Traumas sind. Es ist wichtig, mehr Bewusstsein für dieses Thema zu schaffen, es sozusagen behutsam etwas mehr ans Licht zu holen, um mehr Menschen dafür zu sensibilisieren.

 

Vielleicht fühlst du beim Lesen an der einen oder anderen Stelle eine Resonanz. Es kann sein, dass dich etwas berührt, dass Tränen aufsteigen oder dass sich etwas im Körper zeigt, auch wenn du es dir rational nicht erklären kannst. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch du deine Lebensreise nicht alleine begonnen hast. Es kann auch sein, dass dir beim Lesen eine dir nahestehende Person in den Sinn kommt, vielleicht deine Partnerin, dein Partner oder deine Kinder. Auch darum geht es: sensibler dafür zu werden, dass andere Menschen eventuell eine frühe Verlusterfahrung mit sich herumtragen, die es ihnen erschwert, sich in Beziehungen sicher zu fühlen. Es kann sehr heilsam für diese Menschen sein, wenn ihnen Verständnis entgegengebracht wird und sie sich langsam wieder erinnern dürfen, was damals passiert ist.

 

Die erste Präsenz, die der kleine Fötus neben sich wahrnehmen kann, noch bevor er die Geräusche und Präsenz der Mutter wahrnimmt, ist der Zwilling. Es ist der erste Kontakt, die erste Beziehung, die noch ganz symbiotisch ist, da die eigenen Körpergrenzen noch nicht wahrgenommen werden. Wenn diese Beziehung plötzlich, unvermittelt, unumkehrbar abricht, spürt der zurückbleibende Fötus dies. Es ist eine zutiefst traumatische Erfahrung, die ihre Spuren hinterlässt. Auch wenn wissenschaftlich noch nicht erforscht ist, wie er dies wahrnehmen kann, so berichten viele Menschen, die als alleingeborene Zwillinge durchs Leben gehen, von einem Gefühl von Hilflosigkeit, Traurigkeit und oft auch von Schuldgefühlen. Die Frage, ob man selbst zu viel Platz eingenommen hat und so dem Zwilling nicht genug Raum für dessen Entwicklung blieb, führt dazu, dass viele sich nie wirklich erlauben, ihr Leben zu leben und ihren Platz im Leben ganz einzunehmen.

 

Wenn der Zwilling zu einem recht frühen Zeitpunkt geht, bleibt dies oft unbemerkt. Durch eine Blutung kann er ausgeschwemmt werden oder er verwächst mit der Plazenta. Doch auch wenn die Ärzte bei der Geburt Anzeichen für einen früh verstorbenen Zwilling entdeckten, verschwiegen sie dies in der Regel, um die Mutter nicht unnötigerweise zu beunruhigen. Das hat jedoch zur Folge, dass das kleine alleingeborene Baby mit seiner Verlusterfahrung und seinem Schmerz ganz alleine bleibt. Da ist niemand, der seine Not versteht und es angemessen trösten und halten kann. Oft sind diese Babys Schreikinder oder tun sich in den ersten Lebensmonaten schwer, ganz auf dieser Welt und in ihrem Körper anzukommen.

 

Schon in der Kindheit und Jugend zeigt sich, dass diese Menschen sehr feine Antennen für ihr Umfeld besitzen. Sie können gut Energien wahrnehmen und spüren die Gefühle anderer Menschen. Manchmal fällt es ihnen sogar schwer, zwischen den Gefühlen anderer Menschen und ihren eigenen zu unterscheiden. Sie sind sehr durchlässig, besitzen eine ausgeprägte Empathiefähigkeit und sind zugewandt und hilfsbereit. Was sich nach schönen Charaktereigenschaften anhört, kann für die Betroffenen jedoch sehr anstrengend sein. Sie spüren ihre eigenen Körpergrenzen nicht gut, sind automatisch mehr beim anderen als bei sich selbst – immer (unbewusst) mit der Frage: „Geht es dem anderen gut? Kann ich etwas für ihn tun?“ Auf keinen Fall möchten sie die schlimme Verlusterfahrung, die sie im Mutterbauch durchleben mussten, noch einmal erleben. Deshalb ist ihr Nervensystem sofort unter großer Anspannung, wenn sie irgendwo in ihrem Umfeld winzige Unstimmigkeiten oder Disharmonien bemerkten.

 

Auch später im Leben steuert der unverarbeitete Verlust des Zwillings unbewusst das Verhalten, vor allem zeigt sich dies in der Partnerschaft. Da ist die unerklärlich große Sehnsucht nach tiefer Nähe, nach Verbundenheit, nach Einheit, nach dem „fehlenden Teil“ von sich selbst. Da die meisten Menschen nicht wissen, dass sie eigentlich ihren Zwilling suchen, projizieren sie diese Sehnsucht auf ihren Liebespartner. Einerseits suchen sie diese symbiotische Verschmelzung mit einem Du, die sie am Anfang ihrer Lebensreise erfahren durften, andererseits ist da eine überwältigende Angst vor erneutem Verlust, die sich manchmal fast lebensbedrohlich anfühlt und deshalb unangemessene Reaktionen hervorrufen kann. Bei einem kleinen Streit oder dem minimalen Rückzug des Partners reagieren diese Menschen dann nicht rational, gelassen und überlegt, sondern irrational, übertrieben und instinktgesteuert. Es ist also nicht der präfrontale Kortex, der hier aktiv ist, sondern der älteste Teil unseres Gehirns, das Stammhirn, das unsere Überlebensinstinkte steuert und zum Beispiel Flucht, Angriff oder Erstarren zur Folge hat. Zwischen diesen zwei Polen, übergroße Sehnsucht und lebensbedrohliche Angst vor Verlust, leben diese Menschen in einer Ambivalenz, die eine Beziehung nicht nur für den Partner, sondern auch für sie selbst recht anstrengend machen kann.

 

Unbewusst trauern diese Menschen um den „Verlorenen Zwilling“ und versuchen, den frühen Verlust zu kompensieren. Oft spüren sie auch ein latentes Gefühl von Verlassensein, das sie sich nicht erklären können. All dies bestimmt unbewusst ihr Denken, Fühlen und Handeln. Erst wenn sie sich dieser alten Wunde bewusst werden und wenn sie sich ihr zuwenden, damit sie heilen darf, wenn also die traumatische Verlusterfahrung integriert wird, erst dann können diese Menschen ganz zu sich selbst zurückfinden.

 

Sich zu erinnern, dass es damals einen Zwilling gab, ist zwar auch schmerzhaft, doch vor allem ist es heilsam und erlösend. Für viele ist es entlastend, wenn sie endlich erkennen, dass es einen Grund gibt für ihre tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit und ihre Schwierigkeit, sich vertrauensvoll in Partnerschaften hineinsinken zu lassen.

 

Es ist die Aufgabe des alleingebliebenen Zwillings, diese Wunden anzuschauen und zu integrieren, doch es hilft diesen Menschen, wenn ihr Umfeld sie versteht und sie dabei liebevoll unterstützt. Oft fühlen und handeln diese Menschen wie ein verwundetes Tier – schreckhaft, extrem, unangemessen – in Situationen, die vermeintlich alltäglich und ungefährlich sind. Für alleingeborene Zwillinge entfalten manche Situationen jedoch eine Bedrohlichkeit, die sofort die Überlebensreflexe des Stammhirns aktiviert. Diese instinktgesteuerte Reaktion durch reflektiertes, reguliertes Verhalten zu ersetzen, braucht Zeit. Alleingeborene Zwillinge brauchen Geduld und Mitgefühl für sich selbst auf dem Weg, neue Bahnen in ihrem Gehirn zu schaffen und neu zu lernen, ihre Gefühle und ihr Nervensystem zu regulieren, Nähe und Distanz zuzulassen und wirklich in ihrem Körper zu landen. Das Verständnis und Mitgefühl ihrer Mitmenschen unterstützt sie auf diesem Weg, ebenso wie das bewusste Da-Bleiben und liebevolle Signalisieren von Beständigkeit und Sicherheit durch den Partner.

 

Langsam darf aus der Suche nach dem verlorenen Zwilling die Suche nach sich selbst werden. Und vielleicht wird aus der Frage „Wo bist du?“ irgendwann ein „Hier bin ICH“.

 

Lesetipps

 

Es gibt noch nicht viele Bücher zu diesem Thema, die meisten sprachen mich persönlich nicht sehr an, da sie für mich nicht behutsam genug mit diesem Thema umgehen. Dies ist ein Buch, das ich empfehlen kann, das allerdings „alte Wunden“ generell, nicht speziell die Thematik des Verlorenen Zwilling betrachtet:

 

Charf, Dami: „Auch alte Wunden können heilen“. Kösel-Verlag, 2018.

 

 

Vielleicht interessiert dich auch meine Geschichte zu diesem Thema:

Die Geschichte von zwei kleinen Seelen, die beschlossen, gemeinsam ins Leben zu springen

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Kommentare: 1
  • #1

    Jürgen Schmidt-Heydt (Mittwoch, 16 Januar 2019 12:09)

    Liebe Bettina
    Jasmine Lehmann hat mir deinen Link geschickt
    ich bin sehr berührt von dem ,was du schreibst,und wie du schreibst.
    glücklich,wer zu dir und deinen Yoga Kursen findet
    Liebe Grüße Jürgen