Ja, wir sehen das erste zaghafte Aufbrechen deines männlichen Herzens. Wir sehen, wie du manchmal so bezaubert von uns bist, dass du alles um dich herum vergisst, deine Konditionierung, deine Schutzmauern, deinen Panzer, dein Ego. Du öffnest dein Visier und schaust uns an mit klarem Blick und mit offenem Herzen. Schaust uns in die Augen und wir spüren, dass du in diesem Moment bis auf den Grund unserer Seele blickst, dass du uns erkennst als die, die wir sind. Wir hören deine Worte und spüren, dass sie in diesem Moment einer Wahrheit entspringen, die tief aus deinem Inneren kommt, von einem Ort, der dir selbst noch fremd ist. Du bist verzaubert von der Reinheit und Klarheit dieses Augenblicks, von der Verbindung, die hell und klar zwischen uns liegt, als wäre sie schon immer da, und gleichzeitig nimmst du den großen Raum um uns herum wahr, die Dimension, in der wir uns begegnen, die weiter ist als alles, was du bisher kanntest.
Ja, wir sehen deine mutigen Versuche, in diesen Momenten da zu bleiben. Nicht zurückzuschrecken, wenn sich dein altes Ich wie ein vertrauter, bequemer Mantel um deine Schultern legt, dir einflüstert, dass diese Offenheit, Ehrlichkeit und Klarheit nur ein rarer, unwirklicher Momente sei, wie wenn man unverhofft eine seltene Muschel am Strand findet. Dass das Leben aber sonst von dir erwarte, hart und stark und unverwundbar zu sein. Da störe dieses offene Herz, der offene Blick nur. So flüstert dein altes Ich und du schaust uns verunsichert an. Doch dann lässt du dich von unserem offenen Herzen und unseren ehrlichen Worten erneut berühren und streifst ein weiteres Mal gemeinsam mit deinem vertrauten, abgetragenen Mantel deine alten Gedankenmuster wieder ab, die dich bereits seit hunderten von Jahren in einem Gefängnis von falsch verstandener Männlichkeit halten. Um dein Herz und deine Schultern ist wieder Leichtigkeit und Weite. Du lächelst uns an, wir atmen erleichtert auf.
Ja, wir wissen, dass dir das nicht leichtfällt. Dass es dich Überwindung kostet, durch uns mit deinem eigenen Inneren konfrontiert zu werden. Mit deiner Angst vor Nähe. Mit deiner Scham über deine eigene Verletzlichkeit. Mit deiner Schuld, das Weibliche in dir und in der Welt nicht gewürdigt und geschützt zu haben. Mit deiner Wut, dich von dir selbst und von deiner bewussten männlichen Kraft entfernt zu haben. Und wir konfrontieren dich mit deiner streng in Schach gehaltenen Sehnsucht nach Verbindung – nach Einssein mit dir selbst und mit einem Du. Deine Sehnsucht nach Verbundenheit, Liebe, Weite und Frieden.
Ja, wir sehen und würdigen deine Schritte, sind sie auch noch so klein. Und wir nehmen es immer wieder auf uns, dich zu erinnern, wenn du vergisst, dass du nun endlich dir selbst und uns wieder näher sein willst. Wir erinnern dich daran, indem wir offen bleiben, auch wenn du uns immer wieder verletzt durch deinen Rückzug, durch dein Schweigen, durch deine Unehrlichkeit mit uns und mit dir selbst. Wir bleiben offen in der Hoffnung, etwas in dir berühren zu können. Weil wir das Potential in dir sehen. Weil wir einen Blick erhaschen durften auf den wahren Kern, der in dir schlummert, deine unglaublich schöne, präsente männliche Kraft. Deshalb nehmen wir all dies auf uns, auch wenn es schmerzt. Und immer wieder gelingt es uns. Manchmal erinnern wir dich daran, indem wir dir mit ehrlichen, kraftvollen, zärtlichen Worten von uns und von unserem Weg erzählen, dir einen tiefen Blick in unsere und in die Weltenseele gestatten.
Ja, manchmal möchten wir dich schütteln wie einen nachtwandelnden Menschen, der schlaftrunken durch die dunkle Wohnung Richtung Balkon tapst in der Illusion, in den Nachthimmel hinauffliegen zu können. Wir wollen dich wachrütteln, dir die Augen öffnen. Manchmal, wenn du schon an der Balkonbrüstung bist und dich weit hinüberlehnst, schreien wir dich in unserer Verzweiflung an: „Schau hin! Schau dir an, wohin du gehst! Ist es das, was du willst?“ Und manchmal blinzelst du dann überrascht, als würdest du aus einem tausendjährigen Schlaf erwachen. Der Blick klärt sich, du schaust uns erstaunt und weich und freundlich an: „Ihr habt recht. Ja, jetzt bin ich wieder da.“
Doch höre uns jetzt:
It is not enough! Nein, es reicht nicht! Die Zeiten des halbherzigen Bemühens und der Minischritte sind vorbei. Wir haben genug erlitten, erduldet und ertragen. Wir haben lange genug gewartet. Es ist Zeit, dass du nun – jetzt, hier und heute – Verantwortung übernimmst für dich und für dein männliches Erwachen. Wenn wir dich weiter an der Hand nehmen und dich wie eine nachsichtige Kindergärtnerin immer wieder behutsam und beständig Richtung Spielkasten schieben, um dich dabei zu unterstützen, endlich Kontakt mit den anderen Kindern aufzunehmen, du aber immer diesen sanften Halt in deinem Rücken spürst, zu dem du dich jederzeit umdrehen kannst, um dich zwischen den Rockschößen vor der Welt zu verstecken, dann wirst du nie in deine ureigene männliche Kraft kommen. Wir müssen dich nun loslassen, auch wenn unser mitfühlendes Herz wehtut. Wir müssen es riskieren, dass du in deinem schlafwandlerischen Delirium über die Balkonbrüstung stürzt. Vielleicht ist es auch das, was du zum echten Aufwachen brauchst, einen harten Aufprall, einen Leidensdruck so groß, dass es nicht mehr geht, die Augen weiter zuzukneifen und so zu tun, als seist du gar nicht da oder zumindest nicht verantwortlich für deine Gedanken, Worte und Taten.
It is not enough! Nein, es reicht nicht, wenn du heute präsent und offen bist und uns morgen wieder weit weg von dir stößt, weil wir etwas in dir berühren. Weil wir dir etwas spiegeln, das unbequem ist und dir Angst macht. Weil es in unserer Gegenwart nicht mehr möglich ist, den Kopf in den Sand zu stecken wie ein Vogelstrauß. Weil wir dich durch unser Dasein daran erinnern, dass du deine innere Arbeit weiterführen musst, dass es nicht reicht, sich mit einem Haus ohne Dach zufriedenzugeben.
It is not enough! Nein, es reicht nicht, wenn wir spüren, dass etwas in dir ganz aufmerksam unseren Worten lauscht und weich und freundlich wird. Wir möchten, dass du das auch ausdrückst und lebst. Wir möchten deine Worte hören, deine Taten sehen. Wir brauchen keinen schüchternen Jungen, der unter der Bettdecke herzerweichende Liebesbriefe schreibt, um sie dann wieder zu zerreißen, bevor die Sonne über den Horizont steigt und seine Gefühle ans Tageslicht gebracht werden könnten. Wir brauchen ein männliches Gegenüber, einen Mann, der im Alltag für einen Augenblick den Stift, das Handy, den Hammer oder den Fußball zur Seite legen kann, uns in die Augen blickt und uns wissen lässt, wo er gerade steht – was er braucht, was er sich wünscht, vor was er Angst hat, was er an uns liebt. Offen, ehrlich, ohne Drama, ohne Taktik, ohne Machtspielchen.
It is not enough! Nein, es reicht nicht, wenn du erst einmal für Wochen oder Monate schweigst, wenn dich etwas bedrückt, um es mit dir alleine auszumachen, um irgendwann, wenn du genug Mut gesammelt hast, die Worte in einer kleinen Hirnwindung deines präfrontalen Kortex aufzuspüren. Nein, es reicht nicht, wenn du uns dann ausgeklügelt, technisch-kompliziert oder in neutral-sachlichen Worten über dein Innenleben von damals berichtest. Wir leiden unter deinem Schweigen, dem Rückzug, dem Verhungernlassen am langen Arm, wenn alles, was wir bräuchten, eine ehrliche, klare, gerne auch kurze Reaktion deinerseits wäre – und zwar jetzt, in dem Moment, in dem es relevant ist. Wir brauchen keine langen Erklärungen oder Rechtfertigungen, nur eine authentische verbale oder nonverbale Botschaft an uns, die nicht zeitverzögert aus deinem Gehirn kommt, sondern direkt aus deinem Herzen, aus deinem authentischen Selbst. Damit wir wissen, wo du stehst und wo wir im Verhältnis dazu stehen können.
It is not enough! Nein, es reicht nicht, in den Zeiten, die wir gemeinsam verbringen, mit uns in die Tiefe unserer Seelen einzutauchen und eine ehrliche und offene Begegnung zuzulassen, wenn du deinen alten Mantel überwirfst, sobald wir außer Sichtweite sind. Es reicht nicht, dass du nur dann ehrlich und authentisch sein kannst, wenn du in unserm Dunstkreis bist, wenn wir dich ständig, immer und immer wieder, daran erinnern. Es ist deine Aufgabe, darin Stabilität, Kraft und Beständigkeit zu entwickeln, Verantwortung zu übernehmen, Klarheit vorzuleben und einzufordern. Es ist deine männliche Aufgabe voran oder zumindest auf gleicher Höhe mit uns zu gehen, nicht wie ein Kind, das man immer wieder durch Süßigkeiten zum Weiterlaufen bewegen muss, wenn der Weg ein bisschen anstrengend wird.
It is not enough! Deine bisherigen Schritte waren wichtig, aber sie reichen nicht! Wisse, dass wir jeden deiner Schritte sehen und ehren und dass dein allmähliches Herantasten an deine wahre männliche Essenz unser Herz zutiefst freut. Wisse, dass wir dich an unserer Seite haben wollen, dass wir dich als männliche, präsente Kraft in unserem Leben brauchen. Doch wir sind es leid, dich mitzuziehen. Wir sind müde, wir brauchen die Kraft und Energie für unseren eigenen weiblichen Weg, der nicht leichter oder bequemer ist als deiner. Wir brauchen ebenfalls Mut, um uns dem zu stellen, was ist. Und: wir brauchen auch Mut, um dich jetzt fallenzulassen. Wisse, dass wir dies nicht unbedacht oder leichten Herzens tun, sondern wie eine Vogelmama, die darum weiß, dass die Kleinen fliegen lernen müssen, um zu überleben. Dass es ihre Aufgabe ist, wenn die Kleinen nicht alleine losfliegen, sie irgendwann aus dem Nest zu stoßen mit dem Vertrauen und der Hoffnung, dass die kleinen Vögel alles in sich tragen an Fähigkeiten und Wissen, um ihre Flügel auszubreiten und sich durch die Luft zu schwingen. Du bist nicht unser kleines Vogelbaby, du bist uns ebenbürtig, du bist auf Augenhöhe mit uns. Und genau da brauchen wir dich jetzt: als ebenbürtiges männliches Gegenüber, an unserer Seite.
Höre uns jetzt:
Breite seelisch deine Flügel aus und fliege! Die Zeit
des Versteckens und Kleinmachens im Nest ist vorbei. Wir brauchen dich in den Lüften. Wir möchten dir zusehen, wie du deine Bahnen über den Himmel ziehst, wie du endlich wieder deine wahre Kraft
spürst. Und wie du dann zu uns zurückkommst. Als erwachsener, bewusster Mann.
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