Du bist in einer fremden Stadt. Sie saugt dich auf, einladend zieht sie dich hinein in ihr Tempo, ihre Strudel, ihre Energie. Unzählige Eindrücke strömen auf dich ein: die Häuser, Menschen, die Farben, Gerüche, Geräusche, die Wärme, die Kälte, der Wind, ein Gewirr von kleinen Straßen, Hinweisschildern, Reklame… Welchen Weg schlägst du ein? Lässt du dich einfach treiben? Oder empfiehlt dein Reiseführer auf jeden Fall das zu sehen und jenes zu fotografieren? War da vorne an der Ecke nicht ein nettes Café? Und wolltest du nicht auch noch einen Blick in den Souvenirladen da drüben werfen? „Wie schön“, denkst du vielleicht. „Ich kenne mich hier schon ein bisschen aus, bin schon ein bisschen heimisch.“
Und plötzlich ist da eine kleine, unscheinbare Gasse, ein Tor, das offen steht, und du trittst ein, weg vom Trubel der Straße in einen von Mauern eingesäumten wundervollen, kleinen Garten, der zu einer winzigen, windschiefen Kapelle gehört. Im Eingangsbereich begrüßt dich ein Finger-Labyrinth mit der Einladung, den Zeigefinger der nicht dominanten Hand an den Anfang des Holzlabyrinths zu legen und dann die Augen zu schließen.
Du nimmst diese Einladung an. Während dein Finger die Rillen in dem kühlen, glatten Holz entlangfährt, hörst du vielleicht, wie andere Besucher hinter dir durch das Tor in den kleinen, heimeligen Garten treten. Doch du musst die Augen nicht öffnen, keinen Blickkontakt aufnehmen, lächeln, grüßen. Du brauchst keine neuen Eindrücke in dich fließen zu lassen. Dieser Augenblick gehört einfach nur dir.
Du spürst das Holz unter deinem Finger, die Ruhe, die sich langsam wie die Wärme einer heißen Tasse Tee an einem kalten Winterabend in dir ausbreitet. Vielleicht spürst du auch die allmählich aufsteigende Unruhe. „War das Labyrinth wirklich so groß? Müsste ich nicht schon längst in der Mitte angekommen sein? Habe ich mich irgendwie ‚verlaufen‘?“ Und vielleicht lässt sich der zweifelnde Verstand wieder beruhigen, wenn du dir bewusst machst, dass dein Finger hier auf diesem Holzlabyrinth nicht verlorengehen kann, dass nichts Schlimmes passieren kann, wenn du trotz der Unsicherheit und des Zweifels einfach die Augen geschlossen hältst und einen Augenblick darauf vertraust, dass das Labyrinth dich letztlich zuverlässig und sicher zum Mittelpunkt bringen wird.
Vielleicht blinzelst du erstaunt, wenn dein Finger in einer kleinen Sackgasse steckenbleibt, die du zuvor mit offenen Augen gar nicht wahrgenommen hast. Doch wenn dein Finger dann in die zweite Sackgasse gleitet, huscht vielleicht nur ein Lächeln über dein Gesicht. Deine Augen bleiben ruhig und geschlossen, intuitiv findet dein Finger wieder zurück zu seinem Weg.
Wie fühlt es sich an, wenn dein Finger die Mitte erreicht hat? Hältst du die Augen geschlossen oder öffnest du sie? Lässt du deinen Finger sofort den Rückweg antreten oder verweilst du einen Augenblick im Zentrum? Wie fühlt sich dann der Rückweg an? Und wie geht es dir, wenn dein Finger wieder am Ausgangspunkt ankommt?
Du bist immer noch in einer fremden Stadt, als du wieder aus dem Tor in die geschäftige Straße trittst. Die Eindrücke prasseln immer noch von allen Seiten auf dich ein. Doch irgendwie bist du nun mehr „da“. Du verlierst dich nicht in dem äußeren Treiben, du zerfließt nicht mit den vielen Eindrücken, sondern nimmst alles von einem inneren, in sich ruhenden Pol aus wahr. Du bist in deiner Mitte.
Dieses kurze Nach-innen-Gehen, zu dem das Labyrinth dich eingeladen hat, hat nicht die Stadt verändert, aber deine Wahrnehmung. Jetzt bist nicht du in der Stadt. Jetzt bist du in dir, und die Stadt ist um dich herum.
Vielleicht sitzt du später in einem Park, liest, schreibst oder denkst nach, ganz in deiner Welt. Und vielleicht hüpft dann ganz neugierig ein Rotkehlchen um dich herum, traut sich näher und näher, legt das Köpfchen schief und schaut dich fragend an. „Was tut dieser Mensch da, ganz versunken in seiner eigenen Welt?“ Und vielleicht fällt dir dann zum ersten Mal auf, wie zart und filigran diese Beinchen sind, die den Körper des Rotkehlchens tragen, die Krallenfüßchen ganz fein geschwungen, und wie wunderbar elegant und vertrauensvoll es mit ihnen um dich herumschreitet. „Schau mal! Es gibt da so viel zu entdecken, wenn du deine Augen öffnest!“
Es braucht eben beides: Manchmal muss man seine Augen schließen, um wieder ganz bei
sich anzukommen. Und manchmal muss man sie bewusst öffnen, um die unbeschreibliche Schönheit der kleinen Dinge im Leben wahrzunehmen.
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Carmen Noller (Samstag, 28 Juli 2018 07:09)
�☯️��WUNDERSCHÖN ��☯️�
��DANKE für diese mir tief gehenden Gedanken��
Alles Gute weiterhin,
Carmen ��