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Das Erwachen der Weiblichkeit

 

Tief verborgen auf dem Grund der Seele schlummert eine Erinnerung. Eine Erinnerung an eine lange vergangene Zeit, als das Weibliche verehrt und gewürdigt wurde als die Energie, aus der heraus alles entsteht und in die hinein alles wieder versinkt, um neu geboren zu werden, in natürlichen, uralten Zyklen, die sich in der Natur spiegeln. Im Anschwellen und Zurückziehen des Meeres bei Ebbe und Flut. Im Knospentreiben und Erblühen der Bäume und Blumen im Frühjahr und im Zurückziehen der Lebenskraft in die Wurzeln im Herbst. Im zunehmenden, vollen und abnehmenden Mond und in der Zeit des Rückzugs, wenn der Mond im Dunkeln bleibt.

 

Mit diesem zyklischen Werden und Vergehen ist das weibliche Prinzip auf einer tiefen, ursprünglichen Ebene verbunden. Diese weibliche Energie, der besonders Frauen von ihrer Essenz her nahe sind, wurde vor langer, langer Zeit von den Menschen – Männern wie Frauen gleichermaßen – geehrt, geachtet und geschützt. Das Weibliche wurde in Form von Göttinnen und der Mutter Erde verehrt. Die weibliche Energie wurde als etwas Lebensspendendes und als große Urkraft gesehen, auf menschlicher Ebene repräsentiert durch die Frau. Auch Männer sind verbunden mit dieser weiblichen Energie und tragen einen weiblichen Anteil in sich, so wie auch Frauen einen männlichen Anteil in sich tragen.

 

Wieso verleugnen Männer heute ihre weiblichen Anteile? Und vor allem: Wieso verleugnen selbst Frauen ihre Weiblichkeit? Wieso wird das Weibliche als schwach, defizitär und minderwertig gesehen? Und wieso wird es, von Frauen wie Männern, – manchmal ganz offensichtlich, manchmal sehr subtil, aber dennoch genauso wirkungsvoll – kleingehalten, abgewertet, lächerlich gemacht, tabuisiert, verbannt, bestraft, dämonisiert?

 

Was ist passiert? 

 

Und: Kannst du den Schmerz spüren? Und die Sehnsucht, den Ruf nach deinen weiblichen Anteilen und nach denen in der Welt?

 

Heute hören einige Menschen diesen Ruf, Männer wie Frauen. Für manche ist er noch schwach, undifferenziert, wie ein Nebelhorn in weiter Ferne. Aber da ist eine vage Ahnung, ein erstes, vorsichtiges Anklopfen. Für manche Menschen ist der Ruf so klar und deutlich hörbar, die Sehnsucht so stark, dass sie beginnen, sich auf die Reise zu machen, um die Rolle, die Kraft und die Schönheit der weiblichen Energie wiederzuentdecken – für sich und für die Welt.

 

Liebe verirrte, suchende Frau,

 

du hast über Jahrzehnte, Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende gekämpft wie ein Mann, um deinen rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft zurückzugewinnen. Du hast gekämpft für dein Wahlrecht, dein Recht auf Arbeit und freie Partnerwahl. Im Job gibst du dich taff und sachlich. Du sprichst und leitest Meetings wie ein Mann. Im Privaten bist du stolz auf deine Unabhängigkeit. Du kontrollierst deinen Zyklus, um nicht den Launen der Natur und deines Körpers ausgeliefert zu sein. Doch irgendetwas fehlt dir. Nun folgst du männlichen spirituellen Lehrern, die dich lehren, deinen Geist zu schulen, um der Körperlichkeit zu entfliehen. Lehrer, die dich anleiten, weich zu werden, damit das männliche Prinzip stark werden, dich führen und öffnen kann.

 

Was für ein Irrtum, liebe Frau!

 

Du bist hier, um ein Leben im menschlichen Körper zu erfahren, um ganz da zu sein in deinem Körper, um in Kontakt mit dir selbst zu sein. Durch dich kann auch der Mann eine Sensibilität für eine tief empfundene Körperlichkeit erfahren, die über die Wahrnehmung der äußeren, sichtbaren Körperform hinausgeht. Du kannst dir selbst und dem Mann kein größeres Geschenk machen, als ganz in deinem Körper präsent zu sein. Mitfühlend, mitschwingend, um die Zyklen des Lebens wissend - nicht sachlich, kühl und konstant. Du bist nicht hier, um darauf zu warten, dass dir das Männliche die Richtung zeigt. Du hast alles Wissen in dir, bist angebunden an die tiefste Quelle, an Mutter Erde. Du besitzt – wenn vielleicht auch noch verborgen – eine Tiefe und Weite und Weisheit, die ein Mann nur durch dich jemals erfahren kann. Liebe Frau, DU bist es, die den Weg kennt und ihn weist.

 

Lieber verirrter, suchender Mann,

 

manche männlichen Weisheitslehrer sagen dir, dass die Frau lernen muss, ihre Schale abzulegen, weich zu werden, sich hinzugeben. Dass es die Aufgabe des Mannes ist, sie von innen heraus zu öffnen. Dass es deine Aufgabe ist, ihr und ihrer vermeintlich wankelmütigen Emotionalität eine Richtung vorzugeben. Sie die Hingabe zu lehren. Oft fügen diese Lehrer hinzu: „mit sanfter Gewalt“, denn die Frau möchte deine Kraft und Stärke spüren.

 

Was für ein Irrtum, lieber Mann!

 

Du bist hier, um in deine männliche Kraft und Stärke zu kommen, ja. Aber nicht, um der Frau zu zeigen, wie sie sich öffnen kann. Die Frau weiß genau, wie sie sich hingeben und öffnen kann – viel tiefer und weiter, als du dir das vorstellen kannst, lieber Mann. Und sie verspürt ebenfalls eine Sehnsucht danach – auch wenn diese vielleicht für viele noch sehr vage ist oder unbewusst noch kleingehalten wird. Tief drinnen würde sie nichts lieber tun, als endlich wieder weich und offen, sanft, wild und kraftvoll zu sein, ihrer Intuition zu vertrauen, mit der Erde verbunden zu sein, ihre innere Schönheit strahlen zu lassen und dich einzuladen, dieses Wunder mit ihr gemeinsam zu erleben.

 

Doch weißt du, lieber Mann, was in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden passierte, wenn eine Frau genau dies tat? Wenn sie sich – zum Wohle aller, der Menschheit und der Erde – in ihrer Weisheit und Feinfühligkeit, ihrer Sanftheit, Wildheit und Stärke zeigte? Sie wurde marginalisiert, lächerlich gemacht, aus der Gesellschaft verbannt, dämonisiert, gefoltert, missbraucht, erhängt, verbrannt. Wie soll eine Frau, in deren Seele unzählige Wunden pulsieren, die ihr, dem Göttlich-Weiblichen und allen Frauen in den letzten Jahrtausenden zugefügt wurden und immer noch zugefügt werden, wie soll sie sich da ihrer Sehnsucht hingeben, weich werden und ihre Kraft, Sanftheit und Schönheit strahlen lassen?

 

Lieber Mann, wir Frauen sind müde. Wir haben auf einer persönlichen und auf einer kollektiven Ebene so viel an Gewalt, Herabwürdigung und Leid erlebt an Körper, Geist und Seele. Wie kommst du auf die Idee, uns mit „sanfter Gewalt“ öffnen zu müssen?

 

Ja, wir brauchen dich und sehnen uns nach deiner Unterstützung. Doch wir brauchen deine Sanftheit, die du so sehr vergessen hast wie wir. Wir brauchen deinen Mut, deine Kraft und deine Stärke, um den Raum um uns herum zu halten, um uns Schutz und Geborgenheit zu geben, wenn wir uns unseren alten Wunden zuwenden, die auch deine sind. Wir brauchen dich nicht, um uns von innen heraus zu öffnen. Wir brauchen dich, um für uns einen sicheren Rahmen zu schaffen, um uns zu halten, mit einer Sanftheit nach innen und einer Klarheit, Stärke und Beständigkeit nach außen. Unsere Wunden müssen heilen dürfen. Unser Vertrauen, dass wir sicher sind und dass uns – nach all dem Erlebten, das noch in unsern Zellen pulsiert – heute kein Leid zugefügt wird an Körper und Seele, wenn wir weich werden, dieses Vertrauen muss wachsen dürfen.

 

In diesem sicheren, von dir gehaltenen Rahmen geschieht die Öffnung und Hingabe von ganz alleine. Und sie wird anders sein als alles, was du dir vorstellen kannst. Dafür brauchen wir dich. Wir brauchen dich an unserer Seite – auch mit deiner Kraft, Stärke und Entschlossenheit, aber vor allem mit deiner Sanftheit. Begleite uns auf dem Weg, das Göttlich-Weibliche in uns wiederzuentdecken und zu erwecken. Und entdecke es in dir. Schütze, schätze und behüte es mit all deiner männlichen Kraft.

 

Liebe Frau, stelle nicht die Worte männlicher Lehrer über deine eigenen Gefühle. Folge deiner Intuition, der Weisheit deines Körpers und deiner uralten Anbindung an die weibliche Energie. Es ist nicht unsere Aufgabe den männlichen Weg zu gehen, wie wir es jahrhunderte- und jahrtausendelang getan haben. Es ist unsere Aufgabe, unseren ureigenen weiblichen Weg wiederzufinden. Es ist kein breiter, ausgetretener Pfad, der klar beschildert ist. Du findest ihn in dir, tief verborgen auf dem Grund deiner Seele. Hab Vertrauen.

 

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