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Mehr Yin wagen

 

Yin und Yang, das Symbol der zwei in sich verschlungenen, tropfenförmigen Formen, die gemeinsam einen Kreis bilden und so wirken, als würden sie ewig ineinander hineinfließen und auseinander entstehen, kennt auch hier in der westlichen Welt jeder. Schüler malen sich das Symbol aufs Federmäppchen, manche tragen es als Print auf dem T-Shirt, als Kette um den Hals oder als Tattoo auf der Haut. Es sieht schön aus, ein harmonisches, großes Ganzes. Den wenigsten ist bewusst, dass sich die Proportionen stark verschoben haben. Wollte man den aktuellen Zustand unserer heutigen Gesellschaft und auch die Kräfteverteilung in den meisten Menschen darstellen, so sähe dies etwa so aus:

 

Als mir bewusst wurde, wie einseitig ich mich in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt hatte und wie yang-dominiert mein Leben war, entdeckte ich in mir eine tiefe Sehnsucht nach mehr Yin-Qualität, um wieder in Balance zu kommen. Auf diese Reise zum Yin möchte ich dich hier ein Stück mitnehmen. 

 

Yin und Yang sind in der TCM (Traditionellen Chinesischen Medizin) zwei Qualitäten, die sich als komplementäre Pole gegenseitig bedingen und auch beinhalten, wie die jeweils eingeschlossenen kleinen Kreise andeuten. Beide Qualitäten sind nicht trennbar und repräsentieren gemeinsam die Lebensenergie (Chi), die sich in allen Bereichen des Lebens, wo feinstoffliche Lebensenergie fließt, findet. In bestimmten Bereichen dominiert eine der beiden Qualitäten. So können beispielsweise Lebensmittel, Pflanzen oder auch die menschlichen Organe eher dem Yang oder dem Yin zugeordnet werden. In manchen Bereichen ändert sich die Gewichtung in abwechselnden Zyklen. Aufgabe des Menschen ist es jedoch, beide Anteile in Balance und Harmonie zu bringen, ein gesundes Maß zu finden – ganz unabhängig vom biologischen Geschlecht. Denn jeder von uns trägt beide Energien in sich – und sie nur auf männlich (yang) und weiblich (yin) zu reduzieren, wird der Komplexität und Fülle dieser Qualitäten nicht gerecht. Zur Anschaulichkeit hier ein kleine, unvollständige Liste an Begriffen, um die Energien etwas verständlicher zu machen:

 

Yin: weiblich, passiv, empfangend, kühl, dunkel, innen, abstrebend, langsam, verborgen, Mond, Nacht, Erde, Wasser, Winter/Herbst

Yang: männlich, aktiv, gebend, heiß, hell, außen, aufstrebend, schnell, offensichtlich, Sonne, Tag, Himmel, Feuer, Sommer/Frühling

 

Anders als im Westen oft angenommen, wird der Yin-Aspekt durch die Farbe Schwarz repräsentiert. Schwarz steht hier für Leere, auch das In-die-Tiefe-Sinken. Das Weiß des Yang-Aspekts steht hingegen für Fülle, es ist die nach oben strebende Form. Auch im Körper finden sich beide Qualitäten jeweils in betonter Form:

 

Yin: untere Körperhälfte, links, vorne, innen, Gelenke, Knochen, Milz, Niere, Leber, Herz, Lunge

Yang: obere Körperhälfte, rechts, hinten, außen, Muskeln, Blase, Gallenblase, Magen, Dünndarm, Dickdarm

 

Einige der Zuordnungen sind uns, nachdem wir die Qualitäten wie abstrebend/aufstrebend, verborgen/offensichtlich kennengelernt haben, leicht zugänglich. Auch dass die linke Körperseite in verschiedenen Traditionen eher dem weiblichen Aspekt zugeordnet wird, mag uns einleuchten, vielleicht auch, da die Neurowissenschaft der linken Gehirnhälfte eher logisch-rationales Denken und detailorientierte Prozesse zuordnet (was landläufig oft den „männlichen“ Qualitäten zugerechnet wird), während die rechte Gehirnhälfte ganzheitlicher und kreativer (also eher „weiblicher“) funktioniert – und da die Gehirnhälften und die Körperhälften über Kreuz miteinander verschaltet sind, mag so die Zuordnung „linke Körperhälfte – weiblich“ nachvollziehbar sein. Spannend ist die Frage, wieso der Bauch und die vordere Körperseite eher dem Weiblichen zugerechnet wird, der Rücken dem Männlichen. Dazu gibt es eine alte Erklärung aus dem östlichen Raum: Ein Reispflanzer wendet bei der Arbeit auf dem Feld den Rücken der warmen Sonne zu, den Bauch hingegen der kühlen Erde. Der Bauch wird somit assoziiert mit „weich“, „herabsinkend“, „dunkel“, „kühl“, „Erde“, der Rücken mit „hart“, „Sonne“, „hell“, „warm“.

 

Doch was bedeutet dies für uns? Schließe für einen Augenblick die Augen und lass die zwei komplementären Qualitäten nochmal auftauchen, das, woran du dich jetzt gerade erinnern kannst. Und dann spüre in dich hinein: Wie viel Yin und wie viel Yang lebst du zurzeit in deinem Leben? Und wie fühlt sich das an? - Achte darauf, dass du nicht gleich in eine bewertende, kritisierende Haltung verfällst, nur anschauen und sagen: "Aha, so ist das also". Und dann reinspüren, wie fühlt es sich an. Nimm dir dafür einen Augenblick Zeit...

 

                                                            ~*~

Schnell sein, proaktiv handeln, extrovertiert, kraftvoll, sich zeigen, in Bewegung bleiben, nach oben streben, auf allen Hochzeiten tanzen, aktiv sein, immer gut gelaunt  – woran erinnern dich diese Worte? Dein Arbeitsleben? Deine sozialen Kontakte und Beziehungen? Deine Freizeitaktivitäten? Obwohl all diese Konzepte in Maßen gut und förderlich sind, ermüden sie uns, wenn es zu viel davon wird. Und: sie bringen uns von uns selbst weg. Wir leben ein Leben im Außen, spüren den Druck der äußeren Anforderungen, rappeln uns immer wieder auf, aktivieren nochmal alle Kraftreserven.

 

Anhalten, Ruhe, hineinsinken lassen, loslassen, still werden, ankommen, mit der Schwerkraft auf den Boden sinken dürfen, liegen bleiben, Augen schließen, reinspüren, dem eigenen Atem lauschen, die Gefühls- und Gedankenwellen beobachten, nicht reagieren müssen, wohlwollend mit sich sein, nicht perfekt sein müssen, sich zulächeln, einfach sein – und wie fühlt sich dies an? Wie oft gönnst du dir diese Momente? Und: ja, dies sind eher „weibliche“ Qualitäten, aber ist dies wirklich etwas, nach dem sich nur Frauen sehnen?

 

Ja, wir Frauen haben uns in den letzten Jahrzehnten viel erkämpft, auch dank mutiger Vorreiterinnen, die sich in männliche Bereiche und Arbeitsfelder vorgewagt und „ihren Mann gestanden“ haben. Aber ist es jetzt nicht endlich an der Zeit, wieder bei uns anzukommen? Nicht mehr Mann sein zu müssen, im Job, im Alltag, sondern Frau sein zu dürfen? Sollten wir nicht der Arbeitswelt, der Politik, dem sozialen Miteinander viel mehr unseren „weiblichen“ Stempel aufdrücken, nicht wie ein Mann reden, verhandeln oder Menschen führen, sondern der Belegschaft, dem Land oder der Welt zeigen, wie eine Frau redet, verhandelt und führt? Mit Empathie, mit Weichheit und gleichzeitig Klarheit und Entschlossenheit. Kooperation und Konsens statt selbstsüchtiges Taktieren für den eigenen Status und den eigenen Geldbeutel. Und ist es nicht auch an der Zeit, dass wir den Kindern und Männern erlauben, auch wieder weicher zu werden, sich manchmal einfach „hineinsinken“ zu lassen in das Leben, zur Ruhe zu kommen, nichts zu tun, mal Pause machen vom Selbstoptimieren und vom Schneller-Höher-Weiter-Denken. Stattdessen nach innen lauschen: Hallo, wer ist denn da? Oh, da ist jemand erschöpft? Oder wütend? Oder traurig? Das ist ok. Einfach mal mit den eigenen Gefühlen sein. Wohlwollend mit sich sein. Den inneren Kritiker für einen Augenblick auf lautlos stellen.  Für ein paar Atemzüge nichts leisten, nichts denken, sondern loslassen und einfach nur da sein.

 

Natürlich können wir unser Leben nicht leben, wenn wir tagaus tagein nur in der Hängematte liegen und „einfach nur sind“. Es geht auch gar nicht darum, den Yang-Aspekt, das Dynamisch-Aktive in uns, verkümmern zu lassen. Vielmehr geht es darum, den seit Jahrzehnten, Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden stiefmütterlich behandelten Yin-Aspekt nicht vollständig verkümmern zu lassen, sondern wie ein zartes Pflänzchen endlich zu hegen und zu pflegen, ans Licht zu stellen, Aufmerksamkeit zu schenken, einen Raum zu geben.

 

Und wie funktioniert das im Alltag? Dafür gibt es viele Wege. Innehalten und zur Ruhe kommen, sei es bei der Meditation, bei kleinen Achtsamkeitsübungen, in der Badewanne oder bei einem Spaziergang können uns wieder mit dem Yin-Anteil in uns in Kontakt bringen. Wohlwollend mit sich sein, auch in schwierigen Zeiten, sich genug Zeit freizuhalten, um es nicht zu verpassen, wenn dich die Muse küssen möchte, sich und anderen Menschen einfach so ein Lächeln schenken. Wichtig dabei ist: die Yin-Qualität kann nicht auf Knopfdruck aktiviert werden. Vielmehr will sie eingeladen werden. Versuche einen Raum zu schaffen, damit sie sich zeigen darf, in ihrem Tempo. Der Prozess ist wie das Wachsen eines Pflänzchens: Du kannst für gute Rahmenbedingungen sorgen (Licht, Wasser, gute Erde), aber letztlich braucht es regelmäßiges Hegen und Pflegen, Achtsamkeit, Geduld und Vertrauen.

 

Hilfreich ist es, wenn man den Körper in diese Erfahrung mitnimmt und sich so die Möglichkeit gibt, den Yin-Aspekt tatsächlich mit Körper, Geist und Seele zu erfahren. Mein Weg führte mich vor einigen Jahren unverhofft zum Yin Yoga, das mich schon damals sofort ansprach, dann aber als stille, leise Sehnsucht im Alltagstrubel wieder in den Hintergrund trat. Doch jetzt bin ich wieder auf diesem Weg, die Yin-Seite in mir und damit vielleicht auch in anderen Menschen zum Klingen zu bringen. Vielleicht hörst du das Klingen jetzt gerade auch in dir?

Lesenswert:

Arend, Stefanie: Yin Yoga. Der sanfte Weg zur inneren Mitte. Schirner Verlag (2011).

Seehofer, Tanja und Doris Iding: Yin Yoga des Herzens. Windpferd (2013).

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